Auspacken – mit Storytelling die Welt verstehen

von | 28. Feb. 2022

Am Anfang war die Imagination. Auch journalistisches Storytelling kann nicht ganz auf sie verzichten

In der letzten Zeit habe ich viel übers Storytelling nachgedacht. Vor ein paar Tagen brachten Mitarbeiter eines Versandservice ein riesiges, an mich adressiertes Paket, das von einer schwedischen Bekleidungskette stammte und größere Mengen schwarz-weißer Kinderkleidung enthielt. Geeignet für drei bis vier Kommunionsknaben zwischen acht und zehn Jahren. Nachdem ich meine E-Mail-Eingänge und Konto-Abbuchungen geprüft und ein längeres Telefonat mit dem Kundenservice des Versandhändlers geführt hatte, wich die Angst, Opfer eines Betrugs geworden sein. Die Verwirrung aber blieb.

Am nächsten Morgen hatte mein Mann eine passende Theorie parat. Jemand musste für eine meiner Namensschwestern bestellt und die Adresse gegoogelt haben. Ich erinnerte mich, dass mich vor Jahren Freundinnen einer aus Afrika stammenden Dame, die mit gleichem Namen wie ich nach Berlin geheiratet hatte, über ein soziales Medium kontaktierten. Die Kinderkleidung – ein Geschenk, vielleicht von der Großmutter aus Kenia, Ghana oder wo auch immer. Für eine Hochzeit, steuerte meine Tochter der Erzählung bei. Die Story war fertig. Vor meinem inneren Auge lief ein Film über das Leben einer deutsch-kenianischen Familie ab, angereichert mit Bildern, die sicherlich nichts mit der Realität zu tun hatten. Unsere Geschichte erfüllte unser Bedürfnis nach Erklärung.

Geschichten erklären uns die Welt – wie es uns gefällt?

Denn das Unerklärliche können wir Menschen nicht stehenlassen. Alle Religionen der Welt haben für Vorgänge, die Menschen nicht erklären konnten und im Wesentlichen weiterhin nicht verstehen, Narrationen entwickelt. Die Gestaltpsychologie basiert darauf, dass wir wie unsere Vorfahren Informationen einordnen können müssen, um in potenziell gefährlichen Situationen handlungsfähig zu sein. Disparate Wahrnehmungen werden dafür mit einem guten Schuss Imagination zu einem sinnvollen – begreifbaren – Ganzen verbunden. Mythen und wissenschaftliche Erklärungsmodelle, dank derer wir uns zum Beispiel Coronaviren wie kleine, rot-genoppte Massagebälle vorstellen, versorgen unser Denken mit Bildern, die Geschichten erzählen, und mit Geschichten, die in uns Bilder erzeugen. Weil wir die Welt nur so verstehen können.

Keine Märchen: Storytelling im Journalismus

Geschichten waren also seit jeher das erste Mittel der Wahl, wenn es ums Erklären und Verstehen ging. Auch journalistisches „Storytelling“ ist letztlich ein alter Hut, dessen neuer Name geprägt wurde als sich der amerikanische „New Journalism“ der 1960er Jahre vom scheinbar objektiven nüchternen Berichtston abwendete. Narrativer Journalismus mit Mitteln der Reportage und perspektivierten, erzählenden Texten sollte ein tieferes und nachhaltigeres Verständnis ermöglichen. Zugleich war er Ausdruck eines zunehmenden Zweifels an den Möglichkeiten, Wirklichkeit objektiv abzubilden. „Lieber die Trugbilder der Subjektivität als der Schwindel der Objektivität“, lautete das Credo von Roland Barthes, einem Vertreter des Strukturalismus. Bis heute hat sich im journalistischen Bereich die Technik durchgesetzt, den Artikel mit der Perspektive erlebender und handelnder Protagonisten zu beginnen, um uns direkt in deren „Story“ hineinzuziehen.

Allerdings sind Geschichten keine Märchen, und verantwortungsvoller Journalismus präsentiert keine Informationen, die nicht belegbar wären, er bleibt seinen Quellen treu. Dennoch kommen Geschichten nicht ohne das aus, was zwischen den Zeilen steht. Verstehen ist ohne Imagination nicht möglich. Die unterschiedliche Gewichtung von Imagination und Realem trennt den Journalismus von Prosa. Wo sich künstlerische und journalistische Formen vermischen, entstehen Missverständnissen – oder spannende neue Formate.

Das Paket für meine Namensschwester wurde inzwischen abgeholt. Dafür habe ich eine Benachrichtigungskarte der DHL bekommen. Eine Büchersendung, die ich nicht bestellt habe, liegt für mich bereit. Noch eine Story?

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